Aus dem Igelbulletin 58 Herbst winter 2017/2018
ALLERLEI FRAGEN
RUND UM DIE IGEL-FÜTTERUNG
Ein Gespräch von Pro Igel e.V. mit Tierarzt Dipl. vet. med. Carsten Schiller, Berlin
Warum pflanzliche Proteine für
Igel schwer verdaulich sind:
1. Zellwand
Das Protein liegt in der Zelle. Im Gegensatz
zur tierischen Zelle (die nur
eine Zellmembran besitzt) ist das
pflanzliche Protein von einer mehrschichtigen
Zellwand umschlossen.
An das Zellinnere kommen die Igel
bei hohen Zellulose-/Ligningehalten
der Zellwand verdauungstechnisch
nur heran, wenn die Pflanzenzellen
zuvor durch thermische,
physikalische oder chemische Verfahren
aufgebrochen wurden. Dieser
Aufbruch ist bei herkömmlichen
Verfahren (außer bei pflanzlichen
Proteinextrakten) stets unvollständig,
d.h. pflanzliche Nahrung ist
beim Igel immer mit einem höheren
Anteil unverdaulicher Bestandteile
(und größerer Kotmengen) verbunden.
Unverdaute Nährstoffe im Dickdarm
führen zu bakterieller Fehlbesiedlung.
Hier siedeln sich Bakterien
an, die sich über die Reste hermachen
und quasi eine Nachverdauung
durchführen, von der der Igel jedoch
nicht profitiert, da seine Nährstoffaufnahme
größtenteils im Zwölffingerdarm
stattfindet.
Beispiel Hafer: Haferkorn kann
der Igel überhaupt nicht verdauen.
Haferflocken (hier sind die Zellwände
aufgebrochen) kann er teilweise
verdauen. Auch Nussbruch, Apfelkerne,
geschälte Sonnenblumenkerne
finden sich zum beträchtlichen
Teil unvollständig verdaut im Kot
wieder.
2. Proteinstruktur
Tierische und pflanzliche Proteine
unterscheiden sich erheblich in der
Proteinstruktur, insbesondere im
Vorkommen, den Mengenanteilen
und der Verknüpfung der verschiedenen
Eiweißbausteine (Aminosäuren).
Ein Stück Muskelfleisch enthält
fast alles - und im richtigen Mengenverhältnis
- was der wachsende Igel
zum Aufbau seiner eigenen Muskulatur
braucht. Bei der Fütterung
Immer wieder erreichen uns Fragen zur
artgerechten Fütterung von Igelpfleglingen.
Wir führten ein informatives Gespräch mit einem
ausgewiesenen Experten zur Ernährung des
Igels, dem Berliner Tierarzt Carsten Schiller.
1. Pflanzliches Eiweiß für Igel?
Pro Igel: Igel brauchen Eiweißstoffe, die
sie während der kurzen Darmpassage
verdauen können. Tierisches Eiweiß ist
relativ leicht verdaulich. Wie steht es mit
pflanzlichem Eiweiß, also dem Eiweiß,
das z.B. in Getreide (z.B. Haferflocken),
in Nüssen (z.B. Erdnussbruch) oder in
Kernen (z.B. Sonnenblumenkerne) enthalten
ist?
Carsten Schiller: Eine saloppe,
aber wohl jedermann einleuchtende
Antwort ist: „Ein funktionierendes
Igelbein lässt sich viel einfacher aus
einem gekochten Hühnerbein als
aus einer Sonnenblume basteln.“
Damit ist zusammengefasst, wie
man pflanzliches Eiweiß in der Igelernährung
einschätzen muss. Igel
verfügen jedoch stoffwechselmäßig
über viele Reservemechanismen, so
dass sie Nährstoffmangelsituationen
erstaunlich lange überdauern können,
ohne gleich zu erkranken oder
zu sterben.
Foto: Tanja Zapp, Flörsheim; Fotolia.com/Klaus-Eppele
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mit pflanzlichen Proteinen muss die
Leber erst die notwendigen Aminosäuren
aus anderen Aminosäuren,
aus Fetten und Kohlenhydraten
synthetisieren, bevor sie verbaut
werden können. Dies kostet Energie
und Zeit. Bei der Fütterung mit
pflanzlichen Proteinen entstehen zudem
erheblich mehr Abfallstoffe im
Eiweißstoffwechsel, die durch Leber
und vor allem durch die Nieren abgebaut
und ausgeschieden werden
müssen. So ist bekannt, dass heutzutage
die Nierenfunktion von 40 % aller
10jährigen Katzen eingeschränkt
ist, was auf den hohen Kohlenhydratanteil
in Dosenfertigfutter zurückzuführen
ist.
3. Kauapparat
Um pflanzliche Nahrung überhaupt
verdauen zu können, muss sie zuvor
gut gekaut (zerkleinert, zermahlen)
werden. Die Backenzähne der Igel
haben jedoch keine entsprechenden
Mahlflächen, sie sind spitz ausgebildet
und funktionieren nach dem
Prinzip einer Schere.
2. Darf oder soll man Igel
mit Mehlwürmern füttern?
Pro Igel: Darf man Igel mit Mehlwürmern
füttern, und wenn ja, in welcher
Menge? Man hört immer wieder, dass
Mehlwürmer Vitamin-B-zehrend wirken.
Das ist abgeleitet von der Wirkung,
die eine allzu reichliche Mehlwurmfütterung
auf Vögel hat. Aber trifft das
auch auf Igel zu?
Beobachtet wurde, dass Igel, die man
mit Mehlwürmern füttert, alles andere
Futter ablehnen. Das wird teuer und ist
vielleicht ungesund?
Carsten Schiller: Leider gibt es zur
Mehlwurmproblematik mehr Thesen
als Fakten.
Zunächst die Fakten:
Eine übermäßige Fütterung mit
Mehlwürmern führt bei Vögeln
und Kleinsäugern
(Hamstern, Mäusen u. a., auch
bei europäischen und afrikanischen
Igeln) in Einzelfällen zu
klinischen Symptomen, die einer
Vitamin B-Mangelerkrankung ähneln.
Bei Igeln werden neben einer Verfettung
(Adipositas) u.a. Symptome
einer Hinterhandlähmung
beobachtet.
Mehlwürmer besitzen ein sehr
ungünstiges Calzium-Phosphor-
Verhältnis
Mehlwürmer weisen einen reichlichen
Gehalt an B-Vitaminen auf,
es handelt sich also primär nicht
um eine B-Vitamin-Mangelversorgung
Die Symptome treten nicht auf,
wenn die Mehlwürmer vor dem
Verfüttern überbrüht bzw. anderweitig
hitzebehandelt werden.
Dies lässt darauf schließen, dass
es sich bei dem unerwünscht wirksamen
Stoff um ein hitzelabiles Protein,
Peptid oder Enzym handelt,
das ab einer bestimmten Dosis toxische,
neuromuskuläre Symptome
verursacht.
Thesen:
„Mehlwürmer sind Vitamin-Bzehrend“.
Wissenschaftliche Belege dafür
sind mir nicht bekannt.
Möglich wäre, dass durch eine
chemische Substanz oder ein Enzym
im Mehlwurm bei Wirbeltieren:
1. die Synthese von B-Vitaminen
in der Leber bzw. durch Bakterien
im Darm gehemmt wird
2. die Resorption der Darmwand
für B-Vitamine geblockt wird.
„Mehlwürmer scheiden über den
Darm Zyanid aus“
Hier wurde meiner Meinung nach
eine wissenschaftliche Publikation
durch Laien falsch verstanden
und dann im Internet breitgetreten.
In der Publikation geht
es darum, dass Mehlwürmer in
der Lage sein sollen, Styropor zu
biologisch abbaubaren Substanzen
zu verdauen. Dabei
entsteht u. a. eine Hydrogen-
Zyanid-Verbindung.
Mehlwurmzuchten
verwenden meines Wissens
jedoch kein Styropor zur Mehlwurmfütterung.
Auch sind die
beobachteten und beschriebenen
Symptome nicht typisch für eine
Zyanidvergiftung.
Die nicht reproduzierbaren Einzelfälle
lassen weitere Thesen zu,
die ich für möglich halte:
1. Mehlwurmlarven sind in der
Lage bei einer in Zuchtbehältnissen
üblichen Übervölkerung (zu
hohe Populationsdichte) ein Toxin
zu bilden, das Wachstum der Artgenossen
eindämmen soll.
2. In Abhängigkeit von Ernährung
und Hygiene in den Zuchtbehältnissen
bilden Darmbakterien
(z. B. Clostridien) ein Neurotoxin,
welches mit dem Mehlwurm aufgenommen
wird.
Fazit:
Es gibt ein gesundheitliches Risiko
bei einer übermäßigen Mehlwurmverfütterung,
zumindest wenn die
Würmer im nicht erhitzten, also
frischen Zustand sind. Beim Igeln
empfehle ich je nach Größe des Igels
nicht mehr als 3 bis 10 Mehlwürmer
pro Tag zu verfüttern.
Keine Erkenntnisse habe ich zu getrockneten
Mehlwürmern. Getrocknete
Insekten haben nach meiner
Erfahrung beim Igel generell eine
schlechte Akzeptanz. Zudem weisen
getrocknete Proteine (trifft auch für
Tiermehle, Fleischmehle und Trockenfleisch
zu) eine deutlich geringere
Verdaulichkeit gegenüber dem
Originalzustand auf, weshalb ich
sie bei der Igelernährung auch nicht
einsetze.
3. Fress-Sucht
Pro Igel: Kürzlich erreichte uns ein
Mail mit folgendem (gekürztem) Text:
„Die große Wunde des verletzten Igels
heilt schön. Er kann sich mittlerweile
auch gut einrollen. Das einzige Problem
ist: Er leidet unter Fress-Sucht! Sein
Aufnahmegewicht war 540 g, das aktuelle
Gewicht ist 1044 g. Seit drei Tagen
stellt er, sobald er seine Futterschüssel
mit 400 g Nassfutter leer gefressen hat,
die ganze Box auf den Kopf!“ Anhand
des Pflegeprotokolls ergibt sich, dass
dieser Igel innerhalb von 13 Tagen lang
täglich 36 Gramm zunahm. Schadet das
seiner Gesundheit?
Carsten Schiller: Der Fress-Sucht
sollte man keinesfalls nachgeben,
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und den Igel toben lassen. In solchen
Fällen wären als erstes die Unterbringungsbedingungen
zu überprüfen,
da sich hinter der Fress-Sucht
nicht selten mangelnde Bewegungsund
Beschäftigungsmöglichkeiten
verbergen. Wenn möglich, sind solche
Tiere in einem großflächigen
Freigehege unterzubringen. Andererseits
ist auch verständlich, dass
die heute üblichen 80-82 % Wasseranteil
im Katzen-Dosenfutter nicht
satt machen und der hohe Zerkleinerungsgrad
des Futters ein magengesteuertes
Sättigungsgefühl nicht aufkommen
lässt. Am besten gibt man
in einem solchen Fall Fleisch in großen
Stücken, etwa zum Abnagen
vom Knochen, oder auch Hühnerküken.
Der Igel ist dann beschäftigt
und das Futter rutscht nicht gleich
bis zum After durch.
Bei Igeln, die sich über längere
Monate in menschlicher Obhut befanden,
habe ich bei Sektionen öfter
größere Magenvolumina und Dünndarmdurchmesser
wahrgenommen,
als bei frisch Verstorbenen aus der
freien Natur.
Der Magen ist ein sehr dehnbares
Organ, das sich generell bei übermäßiger
Futterzufuhr auch dauerhaft
vergrößert, was im Allgemeinen
mit einer Magenwandverdünnung
einhergeht. So haben Adipositaskranke
Menschen mit Gewichten
von über 200 kg nicht selten Magenvolumen
von 5-8 Litern, sie könnten
quasi einen Wischeimer voll auf
einmal austrinken. Der Prozess ist
prinzipiell reversibel, d.h. wenn die
Futtermengenbelastung des Magens
dauerhaft herabgesetzt wird, verkleinert
er sich auch wieder. Magenoder
Darmwanddurchbrüche habe
ich beim Igel noch nicht gesehen.
Wenn durch übermäßiges oder ungeeignetes
(quellfähiges) Futter anatomische
Veränderungen auftreten,
ist dies aus medizinischer Sicht erst
einmal bedenklich, auch wenn es
den Igel nicht gleich klinisch krank
macht oder gar umbringt. Selbst bei
Unfallopfern, bei denen man davon
ausgehen kann, dass sie bis zum
Schluss noch gefressen haben, findet
man selten mehr als 10 g Futter im
Magen. Der Unterschied zwischen
Beutefang (da ist der Magen schon
wieder fast leer bis zum nächsten
Käfer) und einer ad libitum Fütterung
von 200-300 g Dosenfutter auf
einmal ist schon beträchtlich – und
das Zwischenlager Magen muss
sich dementsprechend anpassen.
Zudem frisst der Igel anscheinend
rein instinktiv nach dem Motto:
„Was fressbar ist und schmeckt,
darf nicht verkommen“. Ich habe
schon Igel verendet am Futternapf
mit noch vollem Maul aufgefunden.
Wo die Mengenbegrenzung für die
Nahrungsaufnahme fehlt, muss der
Igelpfleger regulierend eingreifen.
Solche Extremzunahmen an Körpergewicht,
wie in der E-Mail beschrieben,
führen beim Igel zur Leberverfettung
und Schädigung der Gelenke
und müssen somit aus Gründen des
Tierschutzes zwingend verhindert werden
Ich weiß, nicht gut kopiert, aber vielleicht dennoch von allgemeinem Interesse für alle Igelfinder und Pfleger
Mit freundlichem Gruß
Karin Ohel